Für den Musiker Felix Räuber (u. a. Sänger der Indie-Pop-Band Polarkreis 18) ist die Auseinandersetzung mit dem Sorbischen eine Inspirationsquelle geworden, um neue Songs zu komponieren. Gemeinsam mit seinem Jugendfreund, dem Autor Marc Oliver Rühle, befindet er sich seit fast zwei Jahren auf Expeditionsreise durchs sorbische Siedlungsgebiet.
Die Konfrontation mit der sorbischen Kultur begann für uns tatsächlich an einem der wohl entlegensten Enden der Welt. Wir waren gerade auf der Rückreise von Nordkorea im September 2018. Felix sammelte in der Kim-Dynastie Material für ein Musikvideo, ich notierte Eindrücke für meine journalistische Arbeit. Der Himmel war klar, unsere Körper voller Melancholie, als wir in Pjöngjang den Flieger zurück – in die grenzenlose Freiheit – betraten.
Nachdem wir in Peking in einen Airbus umgestiegen waren und nun aus abertausenden Metern Höhe auf die Wüste Gobi blickten, ließ das Rauschen langsam nach und die Melodien der Märsche, die uns tagein tagaus aus nordkoreanischen Lautsprechern um die Ohren bliesen, wiederholten sich in unseren Köpfen. Von Propaganda-Ohrwürmern durchlöchert führte uns das anschließende Gespräch Schritt für Schritt zurück – dahin, wo wir selbst herkommen: Was hallt denn bei uns zu Hause nach? Welche Melodien prägen unsere Kultur? Wie hört sich Deutschland an? Und dann formulierte sich die daraus resultierende Frage, welche uns seit nun über zwei Jahren kreativ umtreibt: Wie klingt Heimat? Und ein paar kulturelle Meter weiter: Kak klinči domizna?
Wšitko je bliske! Alles ist so nah!
Heimreise und Heimweh: So führte uns tatsächlich der Umweg über die koreanische Halbinsel ins naheliegende Sorbische. Hinein in unser eigenes Inland, konfrontiert mit der eigenen Herkunft, die da lautet: geboren in Dresden Mitte der Achtziger, nach dem Kindergarten kam die Wende, die Mauer fiel und wir bekamen in der dritten Klasse Heimatkundeunterricht und dort vernahmen wir das erste Mal das Wort Sorben, in diesem schulischen Kontext gefolgt von Vogelhochzeit und Osterreiter. Danach kam lange nichts.
Viel später fielen dann die zweisprachigen Ortsschilder auf, als unsere älteren Freunde mit Führerschein und den von ihren Eltern geborgten Autos mit uns im Sommer zu den Steinbrüchen fuhren: Kamjenc, Njeswačidło, Rakecy. Dann schickte man uns als Zivildienstleistende eine Woche zum Lehrgang in die Oberlausitz. Nach Schleife, in einen Ort, der eigentlich Slěpe heißt und in dem der Verein „Kólesko z.t.“ das kleinste sorbische Trachtengebiet und den evangelischen Brauch des Ostersingens vor dem Verschwinden bewahrt – wie wir heute wissen.
So kommen am Ostersonntagmorgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang, ausschließlich die Frauen in Schleifer Ostertracht zusammen, um auf den sogenannten Singebänken vor der Schleifer Kirche gemeinsam zu singen. „Wir sind ein kleines Wunder“, sagt Elvira Hantscho, frühere Trachtenwärtin, heute Gładźarnica, Ankleidefrau des Vereins, im Frühjahr 2021 zu uns Heimatforschern.
Felix steuerte zwar mit seiner Band Polarkreis 2008 einen Song zur Krabat-Verfilmung bei – ein Stück Soundtrack zur Sage, aber dabei blieb es zunächst. Doch nun sind es genau diese intimen Zusammenkünfte eben dieser Schleifer Sorbinnen, deren zarter Gesang – auch unverstanden – für uns Außenstehende eine besondere Kraft entfaltet, welche wir filmisch festhalten wollen. Für uns Spurensuchende ist vor allem spannend, dass die feinbesaiteten Osterchoräle in Schleifer Sorbisch und nicht in Obersorbisch gesungen werden. So können wir die Vielfalt der sorbischen Sprache in einem neugestalteten Musikstück zum Ausdruck bringen, integriert in unser vielseitiges Panorama von Heimat.
Heimat, Stoffe, Farben, Innerlichkeit
Erst über zehn Jahre später sensibilisiert uns also das Fazit einer Fernreise mit dem Sorbischen. Besser spät als nie! Lěpje pozdźe jako ženje, übersetzt es mir das Internet. Und so ist es letztlich auch das Netz, welches uns gezielt hier in den nordöstlichsten Zipfel Sachsens geführt hat, zum Wunder, etwas weiterzugeben, von Generation zu Generation. Mit viel Mühe und Geduld und doppelt so viel Liebe – zur Heimat, zu Stoffen, Farben, zu Innerlichkeiten, welche kollektiv nach außen getragen werden.
Für Felix und mich war schnell klar: die volksliedhafte Übertragung von Geschichten und Werten, im Schleifer Sorbisch, in einer Sprache, die uns fremd ist und doch so nah umgibt, soll Teil unserer seriellen Erzählung sein. Seit Anfang 2019 steht das Konzept für eine zehnteilige Filmdokumentation mit integrierter Musikproduktion: „Wie klingt HEIMAT?“ ist zu einem Großprojekt erwachsen, welches für die erste Staffel die Gemeinsamkeiten sächsischer Kulturkreise erforscht und die vielfältigen Unterschiede zu einer alles verbindenden Musik verweben will.
Das Drehbuch für die Folge „Serbscy astronawća“, welches sich mit den akustischen Reizen der sorbischen Gemeinschaft auseinandersetzt, ist als erstes fertig. Kein Zufall, vielmehr für uns ein erstes Rätsel, an dessen Lösung wir uns annähern wollen. Auch weil sich vor unseren Augen bei genauerem Hinsehen erstmals ein so vielseitiger Kosmos eröffnen sollte, der uns bisher verborgen geblieben war.
Und wir wollen Überträger sein, Volkslied und Brauchtum transferieren, in einen popkulturellen Raum. Dass wir dabei als Beobachtende außenvorbleiben, nur durch kleine Fenster hineinschauen können, um uns das Poetische, das Sinnliche dieser Kultur abzuschauen, führt uns vor Augen, dass wir uns auf eine lange, doch bestimmt nachhaltige Reise begeben haben.
Beitragsbild: Ostersingen in Schleife 2019: Mädchen und Frauen singen am Ostersonntagmorgen auf den Singebänken vor der Schleifer Kirche in den speziellen Trachten. (Foto: Gerald Schön)