Eine sorbisch-jüdische Lebensgeschichte: Interview mit Regisseurin Esther Undisz über das Theaterstück „Schierzens Hanka”

Am 12. Februar 2022 findet die Uraufführung von „Šěrcec Hanka“ (Schierzens Hanka) im Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen statt – eine Geschichte über die Verfolgung einer Sorbin jüdischer Herkunft. Wir haben mit Regisseurin Esther Undisz über ihre Arbeit, Hanas Schicksal und die sorbische Sprache gesprochen.

Von: Julia Mahal

„Schierzens Hanka“ erzählt das Schicksal der 1918 als Jüdin geborene Hana Šěrcec/Annemarie Schierz (geb. Kreidl), die als katholische Sorbin in Hórka/Horka aufwuchs. Hana war von den antijüdischen Rasse-Gesetzen der Nationalsozialisten betroffen und wurde verfolgt. Nach einem Verhör durch die Gestapo im Jahre 1942 kehrte sie nicht mehr zurück. Jurij Koch hat ihr Schicksal in den 60er Jahren in einer sorbischen Novelle festgehalten. Erst 2020 erschien die deutsche Übersetzung. Im Theaterstück rekonstruiert Regisseurin Esther Undisz nun Hanas Lebensgeschichte anhand recherchierbarer Fakten.

 

Frau Undisz, wie kam es dazu, dass „Schierzens Hanka“ als Theaterstück adaptiert wurde?

Das ist ein komplexer Prozess gewesen. Ich habe vor drei Jahren zum ersten Mal am Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Budyšin (Bautzen, Anm. d. Red.)  gearbeitet. Da lag die Novelle von Jurij Koch noch gar nicht auf Deutsch vor. Aber sobald ein Stück beendet ist, fragt man sich natürlich, was ein nächster Stoff sein könnte.

Madlenka Šołćic/Scholze, die Dramaturgin und Stellvertreterin des Intendanten für sorbisches Theater, erzählte mir damals von Hanas Geschichte. Vor eineinhalb Jahren gab es dann noch einmal einen Anstoß. Beim Überprüfen der übersetzten Novelle waren wir uns schnell einig, dass man den Stoff für die Bühne anders anpacken muss. Ich dachte, wenn man die Geschichte heute erzählt, muss man näher an der Figur bleiben.

 

Nachdem klar war, dass Hana auf die Bühne kommt, was waren die nächsten Schritte?

Ich habe recherchiert und mich mit der Zeit und der Region beschäftigt. Ich wollte wissen, wie Hanas Leben zwischen 1918 und 1942 aussah und wie viele historische Zeitzeugnisse auffindbar sind. Die Ausgangssituation war sehr gut. Der Historiker Alexander Polk, der heute im Sorbischen Museum arbeitet, hat als Student eine umfangreiche Seminararbeit über Hana geschrieben. Er hat die verschiedenen Erzählungen systematisch verglichen und den Fakten gegenübergestellt.

Zudem konnte ich mit Eva Maria Elle sprechen. Sie wohnt heute in Horka auf dem Hof, in dem Hana aufgewachsen ist. Ihr Großvater hat Hana noch erlebt und später seine Erinnerungen aufgeschrieben. Persönliche Quellen wie diese sind hilfreich für das Stimmungsbild. Frau Elle hat viel Material und Wissen um Hana zusammengetragen und uns für die Inszenierung sogar Fotos von Hana zur Verfügung gestellt.

Dann fragte ich mich: Was kann ich mittels gesicherter Fakten und plausibler Spekulationen rekonstruieren? Ich wollte Hana in den Mittelpunkt der Geschichte stellen, aber auch ihr Verhältnis zu Zieheltern und Dorf. Aus den Ergebnissen der Recherche und meinen Ideen entstand ein Exposé, das ich der Stiftung für das sorbische Volk, dem Auftraggeber, aber auch Jurij Koch geschickt habe. Das war mir sehr wichtig – ohne seine Novelle wären wir gar nicht in der Situation, das machen zu können, da wäre die Geschichte verloren gegangen. Jurij Koch hat das Exposé dann abgesegnet.

Szene auf der Bühne
Inszenierungsfoto aus „Šěrcec Hanka“, v.l.n.r. Katka Krygarjec/Katharina Krüger als Lubina, Julia Klingnerec/Klingner als Hanka Šěrcec und Jurij Šiman/Schiemann als Bosćij; foto: Miroslav Nowotny/DSVTh

Inwiefern unterscheiden sich Theaterstück und Novelle?

Ich versuche, den Bogen von Hanas Geburt 1918 in der Weimarer Republik bis 1942, ihrem vermutlichen Tod durch die Nationalsozialisten zu erzählen. Ich habe dazu einige wenige Motive der Novelle aufgegriffen, aber es ist keine Inszenierung der Novelle. Im Gespräch mit Jurij Koch kam heraus, dass es ihm wichtig war, dass Hana Freunde im Dorf hatte, die über Fluchtmöglichkeiten für sie nachgedacht haben.

Das hatte er so von seinem Onkel gehört und daher übernommen. Er hat auch gar nicht so viel nachgeforscht, er wollte Hanas Lebensweg nicht exakt nachzeichnen, sondern verfolgte die Idee der Novelle. Außerdem hat mich beim Lesen irritiert, dass Hana erst als Fünfjährige nach Horka gekommen sein soll. Später scheint sie davon vollkommen unberührt, im Dorf wird auch nicht davon gesprochen, dabei wäre das ein so prägendes Ereignis gewesen. Bei der Recherche wurde dann schnell deutlich, dass sie in Wahrheit in Horka geboren wurde.

Ihre Mutter, Gertrud Kreidl, war unverheiratet und bei der Geburt noch nicht volljährig. Ihr Vater Carl Kreidl, ein Dresdner Kaufmann, führte ein Geschäft in der Töpferstraße. Das war schon damals eine vornehme Adresse. In den bürgerlichen Kreisen sollte wohl niemand von der Schwangerschaft wissen und so kam Hana in Horka zur Welt. Dort blieb sie dann in der Obhut der Geschwister Šěrcec/Schierz.

„Šěrcec Hanka“ (Schierzens Hanka)
Inszenierungsfoto aus „Šěrcec Hanka“, v.l.n.r. Petra-Marija Bulankec-Wencelowa/Petra-Maria Wenzel als Šěrcec wowka, Anna-Maria Brankačkec/Brankatschk als Marja Šěrcec, Měrko Brankačk/Mirko Brankatschk als Jurij Šěrc und Julia Klingnerec/Klingner als Hanka Šěrcec; foto: Miroslav Nowotny/DSVTh

Welche Figuren tauchen neben Annemarie Schierz im Stück auf?

Georg und Maria Schierz, Hanas Zieh- und spätere Adoptiveltern, waren mir als nächste Bezugspersonen besonders wichtig. Sie waren 45 und 47 Jahre alt, als Hana geboren wurde, und haben zusammen auf dem Hof in Horka gelebt. Beide waren unverheiratet, da gab es bestimmt auch Gerede. In ihrem Alter war auch klar, dass sie keine eigenen Kinder mehr bekommen würden. Hanas Geburt muss wie ein Zeichen für sie gewesen sein. Für mich war das eine nachvollziehbare/plausible Erklärung, warum sie einen Säugling in Pflegschaft genommen haben, obwohl ihr Hof immer als einer der ärmsten in Horka beschrieben wird.

Außerdem tauchen verschiedene Menschen aus dem Dorf auf, die als Spiegel und Kontrastpunkt dienen. Mir war schnell bewusst, dass ich im Stück eine Gruppe junger Menschen haben möchte, die erwachsen werden. In jeder Generation ist die Jugend eine Zeit, in der man besonders begeisterungsfähig ist und seinen Platz sucht. Die Gruppe im Stück ist fiktiv, aber es war ein Geschenk, diese Arbeit machen zu dürfen. Es existiert ein Foto von 1938, auf dem die zwanzigjährige Hana bei Feierlichkeiten untergehakt bei einem jungen Mann und einer jungen Frau sitzt. Das Foto wurde zum Vorbild für die Figuren der besten Freundin (Lubina) und des Freundes bzw. Geliebten (Bosćij).

Ensemble auf der Bühne
Inszenierungsfoto aus „Šěrcec Hanka“, foto: Miroslav Nowotny/DSVTh

Welche Ereignisse im Leben von Annemarie Schierz waren für das Stück besonders wichtig?

Da wäre unter anderem Hanas Firmung im Juli 1934, bei der sie sich den Firmnamen Esther gab. Da muss eine Absicht dahintergesteckt haben, da bin ich mir mit allen Forschern und Biografen einig. Der Name war ein Bekenntnis zu ihren jüdischen Wurzeln, aber auch zu ihrem katholischen Glauben. Mich hat besonders interessiert, warum sie diese Entscheidung getroffen hat und wie ihre Eltern dazu standen, obwohl zu diesem Zeitpunkt längst klar war, wohin das NS-Regime führte.

Ein weiteres Ereignis, das für mich von großem Interesse war, war die letzte sorbische Theateraufführung im August 1936 in Kopšin (Kopschin, Anm. d. Red.), unweit von Horka. Man schätzt, dass dort 2000 bis 5000 Zuschauer anwesend waren. Auf dem Bildmaterial von damals sieht man sorbische Tracht, deutsche Festtracht, Männer in Uniform. Wer damals jung war, der war möglicherweise da – also vielleicht auch Hana. Als dort die sorbische Hymne gesungen wurde, eskalierte die Situation und die Nazis fingen an, auf die Leute einzuprügeln. Dann fluteten sie die Kneipen der umliegenden Dörfer. Ich habe mich gefragt, wie die Menschen das erlebt haben.

Der historische Kontext ist essentiell für Hanas Geschichte. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe Erzähler eingebaut, die Informationen liefern, die aus meiner Sicht entscheidend für das Verständnis sind. Dazu gehört auch, dass die sorbische Sprache in der Öffentlichkeit verboten wurde, dass sorbischer Unterricht nicht mehr stattfand, dass einige sorbische Lehrer verhaftet wurden. Die Domowina wurde ebenfalls verboten und es durften keine sorbischen Publikationen mehr erscheinen. Ich habe schon die Notwendigkeit gespürt, diese Fakten zu erzählen. Das Publikum begibt sich so in gewisser Weise auch auf Recherche. Das ist ein Teil der Botschaft – dass es wichtig ist, der Geschichte nachzugehen. Auch für uns als Ensemble ist das immer ein Prozess von Annäherung und Recherche.

Inszenierungsfoto aus „Šěrcec Hanka“, foto: Miroslav Nowotny/DSVTh

Das Stück wird in obersorbischer Sprache aufgeführt, mit einer Simultanübersetzung ins Deutsche. Welchen Einfluss hat das auf Ihre Arbeit als Regisseurin?

Ich habe das Stück auf Deutsch geschrieben, dann wurde es übersetzt. Bei den Proben sprechen die Schauspieler und Schauspielerinnen Sorbisch, ich Deutsch. Das ist gar kein Problem, denn als Autorin kenne ich den Text. Zudem habe ich zehn Jahre Russisch gelernt, das hilft mir hier und da, ein bisschen Sorbisch zu verstehen. Ich habe aber auch ein zweisprachiges Textbuch – eine Seite Deutsch, eine Seite Sorbisch – und kann dadurch verfolgen, was gesprochen wird. Die Kollegen überrascht es manchmal trotzdem, dass ich weiß, wo wir gerade sind.

Es ist nun nicht mehr lange bis zur Uraufführung am 12. Februar – was passiert bis dahin noch?

Etwa zwei Wochen vor der Uraufführung wird zum ersten Mal das Bühnenbild im Original aufgebaut. Dann haben wir die erste Probe, bei der die Kostüme, das fertige Bühnenbild, die Livemusiker und die Kinderdarsteller dabei sind. Das ist für alle sehr aufregend. Natürlich ist es immer aufregend, aber in diesem Fall besonders. Weil die Frauen im Stück Trachten tragen und diese zwischendurch wechseln müssen, muss alles sehr schnell gehen. Hinter der Bühne gibt es Ankleiderinnen, die den Darstellern zur Hand gehen und helfen. Natürlich sind die Kostüme teils extra für den schnellen Wechsel präpariert, aber es gibt auch immer wieder Teile, die eine große Herausforderung sind. Das merkt man jetzt, wo alles zusammenkommt, besonders.

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Was wünschen Sie sich für das Schleifer Sorbisch?

Was man jetzt nicht erhält, wird auch in der Zukunft nicht mehr da sein. Jemand, der jetzt die Sprache spricht, sollte sie deswegen auch weitergeben. Denn jede Sprache ist ein Schatz, den wir bewahren sollten.
Juliana Kaulfürst
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