Gründungsurkunde

800 Jahre sorbische Ortsgeschichte: Dr. Friedrich Pollack über Jubiläen und Identität

2025 ist ein besonderes Jahr für viele Gemeinden im sorbischen Siedlungsgebiet: Sie feiern das 800. Jubiläum ihrer urkundlichen Ersterwähnung. Was 1225 geschah und warum dieser Zeitraum so prägend für die sorbische Geschichte war, erklärt Dr. Friedrich Pollack. Der Historiker leitet die Abteilung Kulturwissenschaften am Sorbischen Institut in Bautzen/ Budyšin und Cottbus/ Chóśebuz und forscht zur neueren Geschichte der Sorben. Im Interview spricht er über eine faszinierende Urkunde, die mittelalterliche Lebenswelt und darüber, weshalb Geschichte auch heute noch Orientierung schafft.

Ein Historiker mit sorbischen Wurzeln

Welche Berührungspunkte hatten Sie schon immer mit der sorbischen Sprache?

Ich bin in der Oberlausitz aufgewachsen und mit sorbischen Bräuchen schon von klein auf in Berührung gekommen, selbst wenn mir das damals häufig gar nicht so bewusst war. Einen systematischen Zugang zur sorbischen Kultur und Geschichte habe ich erst im Studium erhalten. Das gab den Anstoß für meinen späteren beruflichen Weg.

Wie leben und erleben Sie das Sorbische im Alltag?

Durch meine berufliche Tätigkeit bin ich täglich mit dem Sorbischen befasst, sei es bei Recherchen in historischen Quellen oder im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Das hat meinen Blick auf die Welt außerhalb der Arbeit verändert: Sorbische Bezüge, Minderheitenthemen und Sprachenvielfalt nehme ich heute sehr viel bewusster wahr.

Der Wendepunkt für die Oberlausitz

Was genau geschah um das Jahr 1225 und im 12. und 13. Jahrhundert im heutigen sorbischen Siedlungsgebiet?

Die Zeit um 1200 gehört zu den spannendsten Abschnitten der Oberlausitzer Geschichte, weil das Land damals ein völlig neues Gesicht erhielt. Politisch war die Lausitz zu diesem Zeitpunkt bereits seit rund 200 Jahren fester Teil des Römisch-Deutschen Reiches. Aber abgesehen von einigen Burgen, die mit wenigen deutschen Rittern besetzt waren, sowie vereinzelten Kirchen, von denen aus das Christentum peu à peu unter den Sorben verbreitet wurde, hatte sich für Land und Leute bis dahin relativ wenig verändert.

Das wandelte sich um 1200 schlagartig: Die Oberlausitz wurde planmäßig erschlossen und besiedelt. Zehntausende bäuerliche Siedler zogen aus den westlichen Reichsgebieten nach Osten, angelockt und angeworben von adeligen Grundherren. Ziel war es, das damals noch weitgehend unwirtliche Land landwirtschaftlich nutzbar zu machen. In großem Stil wurden Urwälder gerodet, Ackerflächen erschlossen und Hunderte neuer Dörfer gegründet.

Diese Darstellung aus dem Sachsenspiegel, einem bedeutenden Rechtsbuch des 14. Jahrhunderts, zeigt Szenen des mittelalterlichen Landesausbaus - genau wie Dr. Pollack ihn für die Oberlausitz um 1200 beschreibt. Zu sehen sind Waldrodungen, die Errichtung von Siedlungen, die Vergabe von Ackerland und der Bau von Kirchen. (Bild: Universitätsbibliothek Heidelberg)

Die sorbische Bevölkerung war in diesen Landesausbau eng eingebunden. Gemeinsam mit den deutschen Neusiedlern erschloss sie die Region. Davon zeugen bis heute viele Ortsnamen: Neben Deutsch Paulsdorf/ Němske Pawlice liegt Wendisch Paulsdorf/ Serbske Pawlecy, Deutschbaselitz/ Němske Pazlicy unweit von Wendischbaselitz/ Serbske Pazlicy - um nur zwei Beispiele zu nennen. Das sorbische Siedlungsgebiet vergrößerte sich im 12. und 13. Jahrhundert also noch einmal erheblich. Nicht selten passten sich die zugewanderten Siedler rasch der neuen Umgebung an und übernahmen Sprache und Lebensweise ihrer sorbischen Nachbarn. So war etwa auch die Bevölkerung von Deutschbaselitz bald mehrheitlich sorbisch.

Heute schmückt dieses Ortseingangschild den historischen Ort Wendischbaselitz/ Serbske Pazlicy, der wie Dr. Pollack im Interview erklärt, zu den Ortsnamen gehört, die noch heute von der mittelalterlichen Besiedlungsgeschichte der Oberlausitz erzählen. Foto: C.R.

Das Dokument aus St. Marienstern: 25 Orte in einer Urkunde

Welche Quellen nutzen Historikerinnen und Historiker, um Daten wie 1225 zu rekonstruieren? Gibt es Dokumente, die diese Erwähnungen belegen?

Historikerinnen und Historiker arbeiten bevorzugt mit schriftlichen Quellen, zum Beispiel mit Urkunden, Akten, Büchern, aber auch mit Inschriften an Gebäuden, Grabsteinen und so weiter. Für das Mittelalter sind in der Oberlausitz leider nur sehr wenige dieser Zeugnisse erhalten geblieben. Umso wertvoller ist jedes einzelne, denn sie enthalten unwiederbringliche Informationen über das Leben der Menschen vor vielen Jahrhunderten.

Von „urkundlicher Ersterwähnung“ spricht man, wenn etwas – meist ein Ort – zum allerersten Mal in einer schriftlichen Quelle erwähnt wird. Die urkundliche Ersterwähnung darf jedoch nicht mit der Gründung eines Ortes verwechselt werden. In vielen Fällen bestand der Ort schon vorher, nur ist uns kein älterer schriftlicher Nachweis erhalten geblieben. Gerade deshalb ist eine Ersterwähnung so bedeutsam: Sie ist der früheste greifbare Nachweis und damit ein wichtiger Ankerpunkt in der Geschichte eines Ortes.

Dass in diesem Jahr gleich mehrere Kommunen im sorbischen Siedlungsgebiet ihr 800. Jubiläum – genauer gesagt das 800. Jubiläum ihrer urkundlichen Ersterwähnung – feiern, geht auf ein einziges Dokument zurück. Es handelt sich um eine Urkunde, die heute im Archiv des Klosters St. Marienstern aufbewahrt wird. Darin bestätigt der damalige Bischof von Meißen, Bruno II., dass er am 19. Mai 1225 die neu errichtete Pfarrkirche in Kamenz/ Kamjenc geweiht hat. Zum Unterhalt der Kirche bestimmte der Bischof Einkünfte aus mehreren umliegenden Ortschaften, die in der Urkunde namentlich genannt sind. Und damit alles rechtskräftig war, zählt die Urkunde zum Schluss noch eine Reihe Augenzeugen der Kirchweihe auf – sie werden mit Namen und Herkunftsort erwähnt. So kommen wir insgesamt auf 25 Orte, die in dieser Urkunde das erste Mal urkundlich erwähnt werden. Aus diesem Grund können so viele Städte und Gemeinden in der westlichen Oberlausitz im Jahr 2025 ihr 800-jähriges Jubiläum begehen.

Leben im 13. Jahrhundert

Wie sah das Leben der sorbischen Bevölkerung im 13. Jahrhundert aus? Welche Sprache, Bräuche oder Strukturen lassen sich rekonstruieren?

Darüber lässt sich mangels Quellen leider nicht allzu viel mit Sicherheit sagen. Der Großteil der sorbischen Bevölkerung lebte im 13. Jahrhundert auf dem Land. Sie waren Bauern, und das bedeutete im Mittelalter, wie man sich vorstellen kann, harte Arbeit und oft unsichere Lebensverhältnisse. Im Alltag wurde fast ausschließlich Sorbisch gesprochen. Deutsche Sprachkenntnisse waren in der einfachen ländlichen Bevölkerung kaum verbreitet. Im Zuge des Landesausbaus um 1200 wurden auch zahlreiche Kirchen gegründet, sodass sich das Christentum wahrscheinlich bereits weitgehend durchgesetzt hatte, selbst wenn hier und da noch vorchristliche Bräuche weiterlebten. Man kann sich das 13. Jahrhundert als eine Übergangszeit vorstellen, in der viele Weichen für die Zukunft gestellt wurden: politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle.

Geschichte als Orientierung für die Zukunft

Gibt es aktuelle Forschungsprojekte oder Publikationen zu den Jubiläumsorten oder zum Jahr 1225?

Am Sorbischen Institut forschen wir zur Geschichte, Sprache und Kultur der Sorben in einem sehr weiten räumlichen und zeitlichen Rahmen. Uns Historikerinnen und Historiker interessieren dabei besonders historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Strukturen in ihren jeweiligen Wechselbeziehungen und Verflechtungen: Wie fügt sich die sorbische Geschichte in die größeren mitteleuropäischen Entwicklungen ein? Welche Kontakte gab es? Welche Rolle spielten Migrationen? Wie gestaltete sich das Zusammenleben mit der nicht-sorbischen Bevölkerung? Die Ergebnisse unserer Arbeit machen wir über verschiedene Formate einem breiten Publikum zugänglich: durch Veröffentlichungen, Vorträge oder Interviews wie dieses.

Welche Chancen sehen Sie in der Verbindung von Geschichte, regionaler Identität und gesellschaftlicher Zukunft?

Geschichte schafft Orientierung. Wer weiß, woher er kommt, findet sich auch in der vermeintlich immer unübersichtlicher werdenden Gegenwart besser zurecht. Das gilt besonders in Regionen mit einer so vielschichtigen Vergangenheit wie der Oberlausitz. Dort existierten seit Jahrhunderten - ganz genau genommen: von Anfang an - verschiedene Kulturen, Sprachen und Lebenswelten Seite an Seite. Wenn man das ernst nimmt, kann regionale Identität zu etwas Offenem, Einschließenden werden - nicht zu etwas Abschottendem. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann also dabei helfen, die Gesellschaft von morgen mitzugestalten: reflektiert, selbstbewusst und offen für Vielfalt. Genau darin liegt eine große Chance – für die Region und weit darüber hinaus.

Das Sorbische gilt als Sprache, die vom Aussterben bedroht ist. Was wünschen Sie sich für die Sprache und für den Umgang mit ihr? Welche Verbesserungsmöglichkeiten sehen Sie?

Ich wünsche mir, dass das Sorbische nicht nur als kulturelles Erbe verstanden wird, das man irgendwie bewahren muss, sondern zugleich als etwas Lebendiges, das einen Platz in Gegenwart und Zukunft hat. Dazu braucht es mehr als Förderprogramme - auch wenn diese natürlich eine unverzichtbare Grundlage bilden. Es braucht vor allem viel mehr Räume, in denen Sorbisches eine Selbstverständlichkeit ist, unabhängig davon, ob es als eigene Identität empfunden wird oder nicht. Es sollte klar sein, dass das Sorbische nicht nur zu den Sorbinnen und Sorben, sondern zu dieser Region insgesamt gehört - für alle, die hier leben, unabhängig von ihrer Herkunft. Wenn das gelingt, haben sorbische Kulturen und Sprachen auch langfristig eine Zukunft. Ich finde das ist eine sehr lohnenswerte Perspektive für die nächsten 800 Jahre.

Vielen Dank für das Gespräch und für die Einblicke in Ihre Arbeit als Historiker am Sorbischen Institut!

Veranstaltungshinweis: 800 Jahre Kamenz/ Kamjenc erleben

Lust auf einen Blick in die 800-jährige Geschichte der Region? In Kamenz/Kamjenc können Sie die digitale Ausstellung "800 Jahre Kamenz – 800 Blicke" des Geschichtsvereins (bis 21. November, Stadtbibliothek G. E. Lessing, Eintritt frei) sowie die Sonderausstellung "800 Jahre Aberglaube und Magie" im Museum der Westlausitz besuchen. In Bautzen/Budyšin lädt das Museum Bautzen zu einer Zeitreise durch über 1000 Jahre Stadtgeschichte ein - vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Besonders empfehlenswert ist auch das Sorbische Museum mit seiner historischen Einordnung der Sorben und Einblicken in traditionelle Wirtschaftszweige wie Waldbienenzucht und Teichwirtschaft, die seit dem Mittelalter prägend für die Region waren.

Sorbische Vokabeln zum Thema "Geschichte und Jubiläen"

Wir haben einige passende sorbische Begriffe rund um das Thema "Geschichte und Jubiläen" für dich:

Urkunde - wopismo

Jubiläum - jubilej

Dorf - wjes

Geschichte - stawizny

Kirchweihe - kermuša

Du willst noch tiefer in die Geschichte eintauchen und erfahren, was unsere Vorfahren bewegt hat? Besuche den Tag des offenen Denkmals am 08. September 2025 und besichtige Denkmäler und Museen, die sonst oft verschlossen bleiben.


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